Es könnte klappen…

Seit Tagen starrte er jeden Morgen aus dem Fenster auf das schneebedeckte Dach mit den langen Eiszapfen. Und wenn die Sonne hinter dem schneebedeckten Berg aufging, einen bestimmten Punkt überschritt, es wenig später an der Regenrinne des gegenüberliegenden Daches zu tropfen begann, dann zählte er. Bis auf fünf Sekunden konnte er schließlich den Zeitpunkt voraus sagen… Es könnte klappen.
Knapp zwanzig Jahre waren sie jetzt verheiratet. Und jedes Jahr Ostern nach Sölden in die gleiche Pension. Das war es nicht, was ihn störte. Aber sie begann ihn mehr und mehr zu nerven. Nichts war ihr recht. Und die Nörgeleien, auch auf seine Person bezogen – er tue nichts, um an der Universität weiter zu kommen -, waren wie Stiche. Tief und tiefer. Aber warum Dekan werden? Professor für Mathematik genügte ihm allemal.
Fünf, vier drei, zwei, eins… – die Regenrinne fixiert – jetzt. Und tatsächlich, er löste sich, wurde schneller und zersplitterte am Boden. Es könnte klappen.
Nicht nur, daß sie ihn vollkommen vereinnahmte, das Wort abschnitt, ihn verbesserte; auch an Körpergewicht legte sie ständig zu. Richtig erdrückend, ihre Ehe. Und wenn es was zu tragen galt, sein schmächtiger Körper streikte, dann erledigte sie es – überlegen lächelnd. Auch das tat weh. Tanzen tat er deswegen schon lange nicht mehr mit ihr. Schlimm, wenn man als Ehemann kein bißchen die Richtung bestimmen konnte – oder durfte.
Die Sonne ging gerade auf. Er wollte ein Foto von ihr machen. Draußen, vor dem gegenüberliegenden Haus, gleich unter dem großen röhrenden Hirsch auf des Fassade. Das gebe einen schönen Hintergrund.
Sie willigte ein, kniff ihm schelmisch in den Po, schminkte sich und zwängte ihren Körper in ein Dirndl. Er baute sie wenig später genau unter der Regenrinne auf. Unwillig wischte sie die Tropfen vom Haar – mach doch endlich. Und dann zählte er. Fünf, vier… Es könnte klappen.
Zu dumm, daß ihr die Handtasche herunterfiel. Er sprang hinzu, raffte den Inhalt hastig zusammen und schaute nach oben. Noch nicht einmal mehr schreien konnte er. Und dann dieser durchbohrende Schmerz im Rücken.
Eigentlich war ihre Ehe doch nicht so schlimm. Trotz der zwanzig Jahre. Natürlich, sie kommandierte, wollte alles bestimmen, fuhr ihm über den Mund und kniff ihn jetzt ständig in die Wange – aber das war zu verschmerzen.
Und sie fuhren Ostern immer noch nach Sölden. Gut, daß sie so kräftig war. Deshalb machte es ihr auch nichts aus, ihn im Rollstuhl überall hin zu schieben. Leicht, als wäre es ein Kinderwagen. Sogar den Berg hinauf, auch bei tiefstem Schnee.
Nur die Pension hatten sie gewechselt. Eiszapfen konnte er keine mehr sehen.