Ein kleines Mädchen bemerkt die Schafherde vor dem Dorf und macht sich auf den Weg. An einem Bach sieht es einen alten Mann sitzen. Er ist sehr erschöpft und traurig.
„Was machst du hier?“ fragt das Mädchen.
„Ich ruhe mich aus.“
„Wovon bis du so müde?“
„Weil ich so viel zu tun habe.“
„Was bist du von Beruf?“
„Ich bin ein Waagemeister.“
„Ein Waagemeister?“ Das Mädchen überlegt. „Was ist das?“
„Ich sorge dafür, dass eine Waagschale schwerer wird als die andere.“
„Welche soll den schwerer werden?“ will das Mädchen wissen.
„Diejenige, auf der das Gute liegt.“
„Und warum soll sie schwerer sein?“
„Wenn der liebe Gott die Menschen zu sich ruft, weil die Menschen alt geworden sind, dann sagt er zu ihnen: zeige mir, was du Gutes im Leben getan hast.“
„Und dazu müssen die Menschen das Gute auf die Waagschale legen“, sagt das Mädchen.
Der alte Mann nickt. „Und der Teufel, der auch die arme Seele haben will, legt das Böse auf die andere Seite.“
„Und was ist, wenn die Seite mit dem Bösen schwerer ist?“
„Dann komme ich und lege auf die andere Seite etwas Gutes.“
„Dann sinkt die Waagschale und der Mensch kommt in den Himmel.“
„Du sagst es, mein Mädchen.“
„Und warum bist du jetzt so müde?“
„Ich merke, dass auch mein Ende naht.“
„Und warum bist du so traurig?“
„Weil für mich selbst nichts Gutes mehr übrig geblieben ist.“
„Du hast alles den Menschen gegeben?“
Der alte Mann nickt.
„Und jetzt hast du Angst, nicht mehr in den Himmel zu kommen?“
Wieder nickt der alte Mann.
„Sei nicht traurig“, sagt das Mädchen. „Hier, kannst du das für mich aufbewahren? Ich komme gleich wieder zurück.“ Es löste eine Kette mit einem Amulett vom Hals und gibt sie dem alten Mann.
„Wo hast du das her?“
„Von meiner Oma. Als sie krank war, habe ich gebetet und das Amulett auf mein Herz gedrückt, damit sie wieder gesund wird.“
„Ist sie gesund geworden?“
Das Mädchen schüttelt den Kopf. „Seit sie tot ist, trage ich es als Andenken an sie.“
Das Mädchen geht weiter zu den Schafen. Es füttert sie, es streichelt die Lämmer und spielt mit ihnen. Als es sich wieder auf den Heimweg macht, sieht es den alten Mann mit geschlossenen Augen am Wegrand. Es stößt ihn an, aber er reagiert nicht. Es legt sein Ohr auf die Brust des Mannes, hört aber dessen Herz nicht mehr schlagen.
Das Mädchen lächelt und gibt ihm einen Kuss auf die Wange. „Du kannst das Amulett ruhig behalten. Meine Oma hat im Traum zu mir gesagt, ich soll es demjenigen schenken, der ihr geholfen hat, damit sich bei ihr die Waagschale des Guten nach unten senkt. Und nun gibt sie das Gute wieder zurück.“